„Germany is a good country“ (Teil II)

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Einen Monat später stürmen IS-Terroristen Paris. In Indien erinnert die Meldung sofort an die dreitägige Belagerung Bombays im November 2008. In jenem indischen Terrornovember hatten zehn schwerbewaffnete islamistische Terroristen 174 Menschen getötet, auch 17 Polizisten im Einsatz. Am größten Bahnhof Bombays hatten sie ebenso in die Menge geschossen wie in einem bekannten Touristencafé und in den Lobbies zweier berühmter 5 Sterne-Hotels. Sie hatten ein jüdisches Zentrum gestürmt und ein Rabbiner-Ehepaar ermordet. Über die Stadt verteilt hatten sie Bomben hochgehen lassen. Im Hilton Trident Oberoi und im Taj Mahal hatten sie sich mit Geiseln verschanzt. Drei Nächte hatte der Terror angedauert, ehe Spezialkommandos endlich beide Hotels stürmen und sichern konnten. Nach dem 13. November 2015 war in Indien schnell klar: die Anschläge von Paris waren „Mumbai-type“. Überall in Indien wurden die Sicherheitsvorkehrungen erhöht.

In seiner Schneiderei stellt der Meister das Kofferradio an. Er sucht einen Sender. Er erhebt sich, geht auf und ab, zwei Schritte in die eine, zwei Schritte in die andere Richtung. Er setzt sich, blättert die Zeitung durch. Er drückt sich wieder hoch, zwei Schritte auf, zwei Schritte ab. Die Luft ist drückend, auch in diesem November. Der Meister sinkt erneut auf den Schemel. Er stützt das Kinn auf. Er schüttelt den Kopf. Er wischt die Schweißperlen ab. Jetzt hat er keine Hoffnung mehr. Er weiß, was auf solche Attacken folgt.

Er weiß es seit der Angst, die die indischen Muslime am Tag der Ermordung Ghandis überkam. Wenn das ein Muslim war, dann sind wir so gut wie tot! Sie hatten erst aufgeatmet, als feststand, dass Ghandis Mörder ein Hindu-Fanatiker war. Von den Angriffen auf Muslime nach dem 11. September weiß der Meister es. Um 9/11 zu vergelten, ermordeten amerikanische Patrioten im Alleingang amerikanische Muslime, darunter Balbir Singh Sodhi, einen indischstämmigen Sikh, der wegen seines Turbans von seinem Mörder für einen Muslim gehalten wurde, und Sunando Sen, den eine weiße Amerikanerin vor eine einfahrende New Yorker U-Bahn stieß – dabei war Sen Hindu. Der Meister weiß es von den Anschlägen auf Moscheen und Individuen nach den Bomben in London. Von den Granatenwürfen auf islamische Kulturzentren und Schüssen auf Personen nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Er weiß es: jedes Mal gibt es ihnen gegenüber mehr Hass. »Just because we are Muslims.«

Was der Meister befürchtet, beginnt unmittelbar nach dem Pariser IS-Terror. In Frankreich finden in den unmittelbar folgenden Tagen 25 registrierte Übergriffe auf Muslime, viele davon auf Frauen. Aus einem Auto wird die Trikolore gehisst, dann schiessen die Insassen auf einen türkischen Mann. Moschen werden mit roten Kreuzen bemalt und mit Schweinefleisch beworfen, Geschäfte muslimischer Inhaber beschmiert und beschossen. In Großbritanien werden in den acht Tagen nach den Anschlägen von Paris 115 islamfeindliche Übergriffe gezählt, die meisten auf Mädchen und Frauen. Die Täter weiße Männer, auffallend jung: zwischen 15 und 35. In Amerika gibt es den ersten Übergriff noch in der Nacht der Pariser Attacken, er richtet sich gegen eine schwangere Frau mit Kleinkind. Crews von American Airlines verweigern die Mitnahme vermeintlich arabisch aussehender Passagiere.

Und Deutschland? Welches Deutschland wollen wir sein? Jenes, das den Meister dazu brachte, Deutschland als ein gutes Land anzusehen? Oder jenes, das wie in den 1990er Jahren wieder bereit ist, mit Gewalt gegen Menschen vorzugehen? Erinnert sei an die Opfer des NSU: Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköpru, Habil Kiliç, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, Michèlle Kiesewetter. Erinnert sei an Marwa El-Sherbini, die 2010 von einem Rechtsradikalen mit 16 Messerstichen ermordet wurde – in einem deutschen Gerichtssaal. Erinnert sei an Khaled Idris Bahray, einen eritreischen Geflüchteten, der nach der Attacke auf Charlie Hebdo von Unbekannten in Dresden erstochen wurde. Eine „Kleine Anfrage“ der Linksfraktion ergab für das vierte Quartal des letzten Jahres 24 Übergriffe auf Moscheen, von Volksverhetzung bis zu schwerer Brandstiftung, während es in den Quartalen davor im Schnitt 18 waren. Dann kam Köln, und allein in den ersten drei Januarwochen 2016 wurden mehr als 80 antimuslimische Übergriffe aufgenommen – zusätzlich zu den Anschlägen auf Unterkünfte für Geflüchtete. Und während ich das zusammentrage und dabei an die Worte des Meisters in seiner Schneiderei in Kolkata denke, ist schon das nächste islamistische Attentat passiert, warten schon die nächsten rechten Schläger auf Vergeltung.

Der Meister sitzt auf seinem Schemel. Er hat seinen jungen Helfer nach Hause geschickt. Der Ventilator ist aus. Das Licht dringt schwach durch die Ritzen, es sickert an ihm vorbei, verliert sich in Staubkörnern. Der Meister näht nicht. Das Kreidestück, mit dem er sonst Linien auf Stoff zeichnet, wirft er von einer Hand in die andere. Hin und her. Draußen, jenseits der Holzdielen der Dachkammer, geht die Straße ihren täglichen Gang, rufen Menschen, fahren Taxis, hupen Motorräder. Hin und her. Ein Bettler singt, zieht mit seinem Gesang Schritt für Schritt am Haus vorbei. Hin. Klingeln von Münzen, wenn ihm jemand etwas in den Beutel wirft. Und her. Eine Segnung: »Al-Hamdoullilla…« Hin. Unten im Reisebüro buchen Männer One way-Tickets nach Saudi-Arabien. Und her. In der schmalen Straße startet ein Fernbus nach Bangladesh. Hin. Der Muezzin ruft. Und her.

Teil I „Germany is a good country

2 Gedanken zu “„Germany is a good country“ (Teil II)

  1. Erinnert sei an Opfer antimuslimischer Übergriffe der letzten Jahre, da sich die gegenwärtige Fremdenfeindlichkeit in Deutschland insbesondere gegen Muslime richtet. Jede Art von Angriffen gegen Menschen ist untolerierbar. Für eine Ergänzung der Namen derer, die vom deutschen Rechtsstaat keinen ausreichenden Schutz bekamen und Opfer von rassistischem Hass wurden, ist hier Platz – bitte ergänzen!

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